Nuance Audio: Was du siehst, ist was du hörst
Branchenriese geht im Herbst mit erster Hörbrille auf den Markt
Im Jahr 2050 wird laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) voraussichtlich jeder vierte Mensch weltweit Hörprobleme haben – gleichzeitig ist die Unterversorgung im Hörgerätemarkt gravierend. Denn im Vergleich zur Brille sind Hörsysteme mit vielen Stigmatisierungen behaftet. Zum Beispiel: „Wer Hörgeräte trägt ist alt“. Dabei haben solche Vorurteile mit der Realität absolut nichts gemein. Das weiß auch der Branchenriese EssilorLuxottica, der sich nun auf eine besondere Art dem Thema annehmen möchte. Im Herbst wird die erste Hörbrille des Unternehmens auf den Markt kommen. Der Konzern betritt damit ganz neues Terrain in der Hörakustikbranche, auch wenn die Hörbrille nicht mit Hörsystemen vergleichbar ist – über Chancen und Besonderheiten der neuen Technologie.
Nuance Audio heißt die neue Hörbrille, die im zweiten Halbjahr 2024 erst einmal auf dem US-amerikanischen Markt gelauncht werden soll. Danach soll sie nach Europa kommen. Im Sommer 2023 hatte EssilorLuxottica bereits verkündet, dass das israelische Start-up Nuance zu 100% aufgekauft wurde und nun mit einem Audioteam und in-house Research and Development an einer Hörbrille gearbeitet wird.
Dabei ist die Hörbrille selbst nicht unbedingt etwas Neues. Bereits in den 50er Jahren gab es erste Hörbrillen.
Neu ist jedoch, dass nun der mit Abstand größte Augenoptikkonzern weltweit mit auf diesen Markt aufspringt. Das bisherige Nischenprodukt könnte somit ganz neues Ansehen gewinnen. Im Februar, auf der Mido, hatten die FOCUS-Mitarbeiter die Chance die Hörbrille live zu testen, noch vor dem offiziellen Launch.
Ausstattung
„Es handelt sich um eine Brille mit einer unsichtbaren integrierten Hörlösung“, erläutert Stefano Genco, Global Head of Super Audio and Nuance Audio at EssilorLuxottica. Und tatsächlich sieht die Fassung einer üblichen Kunststofffassung sehr ähnlich. Die Technik, beispielsweise diverse Mikrofone und zwei Lautsprecher in der Nähe der Ohren, sind nicht sichtbar in den Bügeln verbaut.
Anatomisch anpassen lässt sich die Hörbrille zwar nicht, aber dafür kommt sie erst einmal in zwei Farben, mit zwei verschieden Bügellängen und in zwei Scheibengrößen (54 und 56) auf den Markt. „Die Fassungen sind ziemlich groß, denn wir werden sie in den USA auf den Markt bringen und wir haben die Form ausgewählt, die wir dort am meisten verkaufen“, erklärt Genco. Brillengläser in individueller Stärke können wie üblich bei jedem üblichen Glashersteller eingearbeitet werden.
Nuance Audio benötigt etwa 2,5 Stunden zum vollständigen Aufladen. Die geschätzte Akkulaufzeit beträgt etwa acht Stunden bei normaler Nutzung in einer lauten Umgebung.
Doch jetzt wird erst einmal getestet.
Die Hörbrille im Test
Die augenoptische Fachmesse ist die perfekte Testumgebung, denn hier ist es überall laut und voll. Bereits für Menschen mit leichter Hörminderung kann es in einer solchen Umgebung schwierig werden Sprache richtig zu verstehen.
Die Brille fühlt sich ähnlich an wie andere Kunststoffbrillen, doch da ich persönlich noch sehr gut höre, kann ich auf der Messe noch keinen Hörvorteil erleben. Bei meiner Kollegin sieht das anders aus: sie entspricht exakt der Zielgruppe, die der Konzern ansprechen möchte.
“Im weltweiten Durchschnitt sind die Kunden traditioneller Hörlösungen etwa 75 Jahre alt. Menschen, die mit 50 oder 55 Jahren einen Hörverlust erleiden, lehnen jedoch jede Art von Lösung aus verschiedenen Gründen ab, z. B. wegen des Stigmas, der Unannehmlichkeiten und des Preises“, erklärt Genco.
Meine 51-jährige Kollegin hat bei sich selbst schon oft einen leichten Hörverlust vermutet, ohne jedoch jemals einen Ohrenarzt oder Hörakustiker besucht zu haben. Und tatsächlich – der Ah-ha-Effekt ist da. Meine Kollegin versteht unseren Interviewpartner Stefano Genco deutlich besser als zuvor und ist begeistert.
Die Hörbrille umgeht das Problem klassischer Hörsysteme. Die Stigmatisierung entfällt, da die Brille modisch aussieht und besonders da sie ohne vorherige Hörtests, Arztbesuche etc. ausprobiert werden kann.
Die Technologie und wie sie funktioniert
Für den Nutzer funktioniert die Hörbrille denkbar einfach. Die Brille wird aufgesetzt und nach weniger als einer Minute ist sie einsatzbereit. Dazu werden innerhalb von 30 Sekunden die Umgebungsgeräusche analysiert und weitere 30 Sekunden die Stimme des Nutzers; dazu muss er sprechen.
Verschiedene Algorithmen nehmen eine Autokonfiguration des gesamten Systems vor, sodass die individuelle Verstärkung auf die Umgebungsgeräusche angepasst wird. Je länger die Brille getragen wird, desto mehr gewöhnt sich der Benutzer an diese Art des Hörens.
„Was wir also sagen wollen, ist: Was Sie sehen, ist das, was Sie hören. Dies ist die perfekte Kombination zwischen dem Sehen und dem Hören“, sagt Genco. Damit ist gemeint, dass insbesondere jene Töne verstärkt werden, die aus frontaler Richtung auf die Mikrofone der Brille treffen. Da man eine Person, mit der man spricht, in aller Regel direkt ansieht, wird somit die Sprache des Gegenübers verstärkt und die „störenden“ Nebengeräusche reduziert. Ein bekanntes Prinzip, das in den meisten Situationen gut funktioniert. Der Hintergrund ist, dass das sogenannte „Sprachverstehen“ immer höchste Priorität bei der Anpassung von Hörsystemen hat.
“Je mehr Sie von Lärm umgeben sind, desto mehr hilft Ihnen diese Brille, sich auf das zu konzentrieren, was Ihr Gegenüber sagt. Und das ist genau das, was sich jemand mit einem leichten Hörverlust bei einem Gespräch mit Freunden oder bei einer Cocktailparty wünscht”, erklärt Genco.
Die Verstärkung in Dezibel kann vom Nutzer dann noch individuell via Handy-App verändert werden. Gesprächspartner oder auch die eigene Stimme können somit lauter oder leiser eingestellt werden.
Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Technologie völlig anders ist als bei Hörgeräten, und die Klangqualität sich gegenüber dem jetzigen Prototyp noch verbessern wird.
Wo genau liegen also die Unterschiede?
Die Hörkurve
Ebenso wie die Sehstärken von Menschen höchst individuell sind, so ist auch die Hörkurve schwerhöriger Menschen höchst individuell. Daher wird bei einer Hörgeräteanpassung immer ein Tonaudiogramm aufgenommen. Jedes vom Hörakustiker angepasste Hörsystem wird genau auf diese ganz individuelle Hörkurve des jeweiligen Kunden eingestellt.
Da eine solch individuelle Anpassung bei der Hörbrille bisher nicht möglich ist, wählt das Unternehmen einen anderen Ansatz, indem es klassifiziert. Laut EssilorLuxottica ist die Hörbrille für leichte bis mittlere Hörverluste geeignet – also nicht für bereits weit fortgeschrittene Hörverluste. Diese leichten bis mittleren Hörverluste lassen sich in gewisser Weise grob klassifizieren. Laut dem Unternehmen gibt es drei „Szenen“.
Mit diesen drei Szenen oder auch Hörkurven lassen sich laut Studien des Unternehmens mehr als 90% der leichten bis mittleren Hörverluste relativ gut abdecken. Es bleibt also nur ein geringer Anteil von Personen mit Hörverlust, bei denen die eigenstellte Hörkurve gar nicht zum Hörverlust passt.
Doch wie kommt EssilorLuxottica überhaupt darauf, noch einen Markt zu erobern? Vermutlich auch aufgrund folgender Zahlen.
Schwerhörige in Zahlen
Laut Statista nutzen im Jahr 2023 rund 3,7 Millionen der insgesamt etwa 5,4 Millionen Schwerhörigen in Deutschland ein Hörgerät2. Das bedeutet, dass nahezu jeder Dritte trotz Schwerhörigkeit kein Hörgerät trägt. Manche Experten gehen sogar noch von deutlich mehr Schwerhörigen und einer dementsprechend größeren Versorgungslücke aus – doch die begrenzte Datenlage lässt leider keine genauere Interpretation zu. EssilorLuxottica selbst geht davon aus, dass global eine Versorgungslücke von 83% vorliegt.
Der Launch
Der erste Launch der Brille erfolgt im Herbst in den USA. Die Brille kann ohne Verordnung gekauft werden aber das Unternehmen arbeitet daran, eine teilweise Rückerstattung zu ermöglichen, auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh ist, sich dazu zu äußern. Für eine Erstattung der Krankenkassen gibt es in jedem Land unterschiedliche Vorgaben.
In Deutschland beispielsweise erfolgt eine Kostenbeteiligung nur bei Anpassung durch qualifiziertes Fachpersonal. Ab einem bestimmten Hörverlust zahlen die gesetzlichen Krankenkassen über 700 Euro pro Hörgerät.
Aufgrund der besonderen Technik wird Nuance Audio nicht ganz günstig sein, sodass eine Teilerstattung der Krankenkassen vermutlich erst dafür sorgen würde, dass das Produkt für einen großen Teil der Bevölkerung attraktiv würde, ebenso wie es bei Hörsystemen der Fall ist.
Fazit: Brille versus Hörgerät
Für “Nicht-Akustiker” liegt der Gedanke nahe, dass die neue Hörbrille ein Hörgerät ersetzen kann. Dem ist jedoch nicht so. Aus akustischer Perspektive kann die Hörbrille für hörgeminderte Personen mit leichten bis mittlerem Hörverlust zum jetzigen Entwicklungsstand ein interessanter Einstieg in die Welt der Hörhilfen sein.
Sie verstärkt die Stimme des Gesprächspartners, sofern dieser angesehen wird, und reduziert störende Nebengeräusche. Die Hemmschwelle ein richtiges Hörgerät auszuprobieren fällt weg, der Kauf wird somit einfacher und zwei „Bedürfnisse“, gutes Hören und Sehen, werden mit einem Gerät abgedeckt. Um der gravierenden Unterversorgung von Hörgeminderten Menschen einen ersten Schritt entgegenzuwirken, ist die Technik daher sehr interessant.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist sie jedoch technisch nicht vergleichbar mit angepassten Hörgeräten. Diese werden auf die individuelle Hörkurve von schwerhörigen Personen angepasst, die Lautsprecher sitzen, aufgrund besserer Verständlichkeit, im Gehörgang und zumindest bei high-end Hörsystem gibt es unzählige technische Features mehr, die das Hören optimieren.
Und so wie gutes Sehen in aller Regel nur auf Basis der richtigen Refraktion möglich ist, so braucht es für perfektes Hören ebenso einen Hörtest vom Experten und eine entsprechende individuelle Anpassung.
Die Hörbrille ist also kein Hörgerät und sollte auch nicht so verstanden werden. Aber sie ist aus anderen Gründen sehr attraktiv.
Das Potential ist da!
Die Brille kann einen ersten barrierefreien Einstieg für Menschen bieten. Die Brille hat durch den Vertrieb von EssilorLuxottica das Potential viele Menschen weltweit zu erreichen, die ansonsten vielleicht nie oder viel zu spät mit Hörhilfen in Kontakt kämen. Sie ist somit eine sehr spannende Lösung auch für junge, technisch affine Menschen, die sich sonst davor sträuben würden, ein Hörsystem zu tragen.
Sie hilft, mehr Menschen die Welt des guten Hörens näherzubringen und vielleicht auch die Begeisterung für weitere Hörsysteme zu wecken, die heutzutage unglaublich viele technische Möglichkeiten bieten und oft so klein sind, dass sie fast unsichtbar hinter den Haaren verschwinden und vom Gegenüber überhaupt nicht wahrgenommen werden.
Höchstes Ziel: Entstigmatisierung
Der offizielle Launch der Hörbrille darf in jedem Fall mit Spannung erwartet werden. Auch, da durch die vertikale Struktur EssilorLuxotticas inzwischen auch diverse Augenoptikfillialisten zum Konzern gehören und EssilorLuxottica nicht nur Hersteller und Lieferant der Hörbrille ist, sondern gleichzeitig auch „Verkäufer”.
Außerdem wird es interessant sein, zu beobachten, wie sich die Hörbrille technisch weiterentwickeln wird und wie die Version ausgestattet ist, die dann letztendlich auch in Deutschland und dem Rest Europas auf den Markt kommt.
Eine Entstigmatisierung von Hörgeräten und Schwerhörigkeit wäre in jedem Fall wünschenswert und im Interesse aller Beteiligten. Denn Hören kann im Vergleich zum Sehen „verlernt“ werden.
Eine möglichst frühzeitige Versorgung mit Hörsystemen, wenn der Hörverlust noch leicht- oder mittelgradig ist, ist daher absolut empfehlenswert, damit das Gehirn in der Lage ist die akustischen Informationen richtig zu verarbeiten. Sollte die Hörbrille also einen Teil zur Entstigmatisierung beitragen, so wäre schon ein bedeutender Schritt getan.